Johannes liest: „(A) Clockwork Orange“ von Anthony Burgess

Als ich ein Teenager war, schwärmte meine Schwester eine Zeitlang von „diesem krassen Film von Stanley Kubrick“. Ich beschloss sofort, mich deshalb nicht für „Clockwork Orange“ zu interessieren. Dass es auch eine Romanvorlage von Anthony Burgess gab, wusste ich damals nicht. Und ich muss zugeben: Sie ist – eigentlich so ziemlich der Hammer.

Johannes liest: „(A) Clockwork Orange“ von Anthony Burgess

Hey, hier kommt Alex

„Clockwork Orange“, in älteren deutschen Übersetzungen auch „Uhrwerk Orange“ oder „Die Uhrwerk-Orange“ betitelt, spielt in einer nahen Zukunft in einem Vorort von London. Hauptfigur ist der 15-jährige Alex, Anführer einer Jugendgang. Mit zu Alex‘ Gang gehören seine „Droogs“ – Pete, Georgie und Doofie, im englischen Original Dim genannt.

So weit, so beschaulich. Es stellt sich allerdings schnell heraus, dass „Clockwork Orange“ für einen 1961 veröffentlichten Roman ein ziemlicher Schocker ist. Die Lieblingsbeschäftigung von Alex und Co. Ist nämlich, sich mit synthetischen Drogen aufzuputschen und „Zwanzig gegen einen“ – im englischen Original „Ultraviolence“ – zu praktizieren. Wer männlich ist, wird von Alex und seinen Kumpanen krankenhausreif geschlagen. Wer weiblich ist, wird vergewaltigt.

Der gewaltsüchtige Alex tobt sich aus – und soll schließlich umerzogen werden

Dabei gehen Alex als Gangleader und seine „Droogs“ bei ihrer Auswahl absolut wahllos vor – und schrecken auch vor älteren Menschen und Kindern nicht zurück. Schließlich wird Alex von einem seiner Kameraden verraten und interniert. Es stellt sich heraus, dass eine alte Dame, in deren Haus er eingebrochen ist, seinen Angriff mit einer Beethoven-Statue nicht überlebt hat.

Alex soll nun mit der angeblich revolutionären – und ziemlich brutalen – Ludovico-Technik zu einem Vorzeigebürger umerzogen werden. Im Gegensatz zu George Orwells „1984“ hat der Leser allerdings ausgiebig Zeit, sich ein Bild zu machen, ob Alex erfolgreich umerzogen worden ist oder nicht. Ich glaube, so könnte man den Inhalt von „Clockwork Orange“ im Schnelldurchlauf zusammenfassen.

Also ist „Clockwork Orange“ nur aufgrund seiner exzessiven Gewaltdarstellung Kult? Wie langweilig! Die Antwort ist definitiv ein klares Jein. Das wirklich geniale Sahnehäubchen von „Clockwork Orange“ ist nicht, was erzählt wird – sondern, wie es erzählt wird. Und das ahnt der Leser bereits beim Lesen der ersten Sätze:

Die originelle Erzählperspektive macht „Clockwork Orange“ zum Klassiker

„Wir saßen im Korowa, Alex, das bin ich, und meine drei Droogs Pete, George und Doofie, der so hieß, wie er war, und zerbrachen uns den Gulliver, was wir mit dem Abend anfangen sollten, einem dünnen, dunklen Winterabend, hundekalt, aber trocken. Das Korowa war ein Milch-plus-Mesto, aber ach, Brüder, wo sich heutzutage alles so skorri ändert und gleich wieder vergessen wird, und weil ihr ja keine Zeitung lest, da werdet ihr gar nicht mehr wissen, was das alles für Mestos waren. Was es da also gab, das war Milch plus Weißichwas. Für die geistigen Getränke hatten sie keine Lizenz, aber gegen manche von den neuen Wetschen waren damals die Gesetze noch nicht fertig, und so bekam man denn Vellozet, Synthomon oder Drencromat und noch so zwei oder drei andere Sachen in die gute alte Molocke gemixt. Das brachte einem eine schöne stille Viertelstunde, echt horrorshow …“

Alle Unklarheiten beseitigt? Aber weiterlesen will man trotzdem. Alex tritt als Ich-Erzähler auf und spricht den Leser direkt an. Dabei lässt er einen vom Autor erfundenen Jugendslang vom Stapel, der es in sich hat. Dieser nennt sich „Nadsat“ und kommt herüber wie eine skurrile Deluxe-Version des „Neusprech“ aus George Orwells „1984“.

„Clockwork Orange“ ist ein Buch über praktisch alle Facetten von Gewalt in unserer Gesellschaft – auf Droge

„Nadsat“ besteht überwiegend aus verballhornten Vokabeln aus dem Russischen. Das berühmteste Beispiel ist sicher horroshow, was gut bedeutet – abgeleitet vom russischen Wort хорошо, xorošo. Auch „Droog“, das Wort für Alex Gangmitglieder, ist von dem russischen Wort друг, drug, abgeleitet. Dazu kommen noch Ausdrücke, die an Kleinkindsprache erinnern – wie Mammalamm für Marmelade sowie rizratzen für zerreißen. Abgerundet wird die bizarre Mischung mit seltsam altertümlich anmutenden Sprachwendungen. Die auffälligste ist das „Oh, meine Brüder“, mit dem Alex den Leser regelmäßig anspricht.

„Clockwork Orange“ könnte das tragikomischste Buch aller Zeiten sein

Dass der brutale Inhalt von „Uhrwerk Orange“ aus dieser Perspektive vermittelt wird, liest sich einfach nur bizarr. Und nicht nur das: Gelegentlich wirkt der Roman dadurch auch schreiend komisch. Wie unpassend das die meiste Zeit ist, wird dem Leser immer wieder bewusst. Aber Burgess sorgt mit viel Raffinesse dafür, dass man gar nicht anders kann, als mit einem verwirrten Grinsen auf den Lippen weiterzulesen.

Diese Dissonanz zwischen Form und Inhalt macht „Clockwork Orange“ zu einem Leseerlebnis, wie ich es – ehrlich gesagt – noch nicht erlebt habe. Manchmal fühlt man sich beim Lesen so, als hätte man selbst ein paar Gläser Milch plus Weißichwas intus. Doch der Roman hat noch mehr zu bieten. Zum Beispiel eine Story mit mehr als genug Tiefgang. „Clockwork Orange“ zeigt nämlich gekonnt, wie Jugendgewalt eine ganze Gesellschaft gefährden kann.

Ein weiterer Geniestreich von „Clockwork Orange“ ist die Charakterisierung der Hauptfigur. Trotz seiner regelrechten Sucht nach Gewalt wirkt Alex geradezu sympathisch. Er lässt deutlich durchblicken, dass seine Bande seinem Leben einen Sinn gibt – und dass er eigentlich gar nicht anders kann. Zudem ist Alex intelligent, gewitzt und kulturell bewandert – und liebt klassische Musik, vor allem Beethoven. Und manchmal ist er auch entwaffnend naiv – was dem Leser signalisiert, dass tief in ihm noch ein ganz normaler Teenager schlummert.

Ist „Clockwork Orange“ das bessere „1984“?

Auch die Struktur und der Umfang von „Clockwork Orange“ sind praktisch ohne Fehl und Tadel. Obwohl der Roman nicht besonders umfangreich ist, hat der Leser das Gefühl, dass in der Welt von „Clockwork Orange“ am Ende alles gesagt und getan ist. Dazu trägt vor allem bei, dass der Roman nach Alex‘ „Heilung“ noch lange nicht zu Ende ist. Dass auch die Politik ihr Fett abbekommt, die Alex und das Ludovico-System als Spielball entdeckt hat, verleiht „Clockwork Orange“ zusätzliche Tiefe und beißende Sozialkritik.

Man kann über das letzte Kapitel, das in der Originalfassung fehlt, sagen, was man will. Hier fühlt sich Alex langsam zu erwachsen für seine üblichen Gewaltexzesse und wünscht sich eine Familie. Trotzdem bleibt mir nur ein Urteil: Sofort kaufen und lesen – aber am besten das englische Original, in dem die „Nadsat“-Kunstsprache eine deutliche Spur mehr Finesse hat.

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